Verfassungsentwicklung – der Einstieg
(Ein bestehender Staat, für den eine neue Verfassung zu entwickeln ist, sei es Deutschland oder ein sonstiger europäischer oder nichteuropäischer, wird hier zweckmäßigerweise als Alt-Staat bezeichnet; ein Staat, der schon einen neokratischen Verfassungsentwicklungsprozess auf den Weg gebracht hat, dementsprechend als Neu-Staat.)
Verfassungsentwicklung, auch neokratische, sollte an bestehende Verfassungen und Staatsordnungen anknüpfen. Dies schon deswegen, weil das politische Bewusstsein der Bürger sich gerade in Sachen Staatsordnung vom Gewohnten nur schrittweise löst.
Zur gewohnten Staatsordnung gehören auch die gewohnten Staatsgrenzen. Eine modifizierte Verfassung sollte sich daher, wie verbreitet der Wunsch nach Staatsgrenzenkorrekturen in manchen Ländern auch sein mag, vorerst auf ein Staatsgebiet mit seinen bestehenden Grenzen beziehen.
Die Verfassungsentwicklung, die aus einem Alt-Staat einen Neu-Staat macht, sollte zunächst von einem zivilgesellschaftlich organisierten informellen Verfassungsrat (s. Rubrik Virtueller Verfassungsrat) so weit wie möglich vorbereitet werden. Damit der Alt-Staat seine Staatsordnung danach organisch und kontinuierlich weiterentwickeln kann, ist dann der formelle Permanente Verfassungsrat bzw. Verfassungskongress einzurichten, d.h. eine unbefristet tätige, politisch unabhängige Instanz, die nur für Verfassungsentwicklung zuständig ist.
Der Permanente Verfassungsrat muss allerspätestens dann gebildet sein, wenn – mit Hilfe zivilgesellschaftlicher Initiativen – der Nachweis erbracht ist, dass die bestehende Verfassung nicht mehr von einer verfassunggebenden Mehrheit der Bürger getragen wird. Schon vorher sollte aber ein organisatorisches Konzept und auch ein Wertekonzept für den Verfassungsrat vorliegen, d.h. der Erstentwurf einer systemoffenen, vom Verfassungsrat zu "betreuenden" Verfassung. Mit der Wahl des ersten Verfassungsrates könnte dann zugleich über die Urfassung der systemoffenen Verfassung abgestimmt werden.
Die Urfassung der systemoffenen Verfassung enthält allgemeine Verfassungsgrundsätze und Grundrechtsnormen sowie die Organisationsnormen für den Verfassungsrat selbst. Sie ist damit die Keimzelle, aus der sich schrittweise ein höher entwickeltes neokratisches Staatswesen entwickeln kann, das den Alt-Staat ablöst. Die bestehende Verfassung des Alt-Staates behält in diesem Prozess nur insoweit und so lange Gültigkeit, wie die neokratische Erstverfassung ihr nicht widerspricht.